2. Orle - Ort am Wald
Im ersten Jahrtausend gab es in Nordostniedersachsen überall dichte Wälder, in denen die unterschiedlichsten Tiere – unter anderem Bären und Auerochsen - lebten. So auch an den Ufern der Oertze und ihrer Nebenflüsse. Die ersten Siedlungen wurden an geeigneten Plätzen – möglichst in der Nähe von Flüssen oder Bächen - am Rand dieser Wälder errichtet. Dies erkennt man heute noch an vielen Ortsnamen, in denen der Bezug zum Wald erhalten geblieben ist. Meines Erachtens spricht vieles dafür, dass dieser Bezug auch im Namen „Orle“ steckt und sich dieser Name nicht von „Orla“ herleitet.
Ortsnamen mit keltischer/germanischer Herkunft bestehen in der Regel aus einem Grundwort und einem vorangestellten Bestimmungswort, durch das das Grundwort näher bestimmt wird. Mit dem Grundwort wird z. B. ein geografisches Merkmal (z. B. -wald = -loh) hervorgehoben, das zur Benennung des Ortes geführt hat. Das vorangestellte Bestimmungswort weist z. B. auf bestimmte geografische oder geologische Gegebenheiten hin. Ausführlich nachzulesen bei Wikipedia unter:
Wahrscheinlicher ist, dass nicht der Bach unserem Dorf den Namen gab, sondern Ort und Stelle, wo er entstanden ist. Nämlich am Waldrand. Und so könnte er ursprünglich als „Ort-Loh“ bezeichnet worden sein. Der alte Flurname „lôh“ bedeutet „Wald“ und dieses althochdeutsche Wort „lôh“ oder „lô“ ist in vielen Ortsnamen zu finden – zum Beispiel in Breloh. Ausführliche Informationen zu den Flurnamen „Loch / Loh“ und deren Wortherkunft bei Ortsnamen findet man bei Wikipedia und im Etymologischen Wörterbuch des Deutschen im DWDS:
Loh im Etymologischen Wörterbuch des Deutschen - DWDS
Wie aus diesem Wikipedia-Artikel hervorgeht, ist „lôh“ im gesamten deutschen Sprachraum namensbildend und in zahlreichen Variationen zu finden, die da sind „la, le, leo, lach, lo, loch, lohen, luch, lauch, loach.“ Das „le“ wurde von mir hervorgehoben, weil es m E. im Ortsnamen Orle enthalten ist. Damit könnte das "-le" am Ende des Namens auf das ursprüngliche „Loh“ für „Wald“ hindeuten.
Die erste Silbe "or-" könnte sich vom altsächsischen „ord“ oder dem mittelniederdeutschen „ort“ – beides u. a. für Rand, Spitze, Ecke – herleiten. So werden im „Altdeutschen Wörterbuch“ von Oskar Schade aus dem Jahr 1882 unter „ort“ folgende Bedeutungen aufgeführt: „äußerster Punkt, Spitze, Anfang, Ende, Ecke, Rand, Saum, Seite“. Dieses Buch findet man unter anderem in der Ausgabe von 1882 in der Bayerischen Staatsbibliothek bzw. in den Digitalen Sammlungen des MDZ.
"ort" im Altdeutschen Wörterbuch, Oskar Schade - MDZ - Digitale Sammlungen
"loh" im Altdeutschen Wörterbuch, Oskar Schade (1882) - MDZ, Digitale Bibliothek
Und im Etymologischen Wörterbuch des Deutschen im DWDS sowie in der Zeno.Bibliothek findet man dies:
Ort im Etymologischen Wörterbuch des Deutschen - DWDS
Oder auch im altsächsischen Wörterbuch von Gerhard Köbler = "ord" = Spitze, Winkel, Ecke altsächisches Wörterbuch
Demnach würde „Orle“ in etwa „Ort am Wald-Rand“ oder „Spitze am Wald“ bedeuten. Alle Bedeutungen würden auf die Lage des Dorfes in damaliger Zeit zutreffen, denn Wald gab es hier überall. Und wenn man sich den Verlauf der Kleinen Oertze anschaut, konnte es wahrscheinlich keinen besser ORT für eine Ansiedlung an diesem Bach geben. Denn nur an der Stelle, wo das alte Dorf liegt, gibt es einen weiten flachen Uferbereich, der eine Ansiedlung möglich machte. Nördlich und südlich davon gibt es nicht nur viel sumpfiges Gelände, sondern auch ein steileres Ufer. Nördlich von der Ansiedlung lag auch ein großes und langegezogenes Moor, dessen Reste wir heute noch als Oerreler Moor kennen.
Dieser flache Uferbereich liegt zwischen den heutigen Straßen Forstweg und Unter den Buchen. In diesem Bereich wurden einst die fünf Höfe im Halbkreis angelegt. Vermutlich damit sich die Dorfbewohner gegenseitig sehen konnten, was wahrscheinlich aus Gründen der Sicherheit bewusst so angelegt wurde. Aus den beiden nachfolgenden Karten wird die ursprüngliche Lage unseres Dorfes deutlich erkennbar.
© ZAA - Zentrale Altablage des Amtes für regionale Landesentwicklung Leine-Weser in Hannover
Beschreibung des Dorfes Oerrel im Jahr 1861 anhand der in der Karte verwendeten in rot eingetragenen Nummerierungen:
a 78: Hof 5 (Vollhof) - Kuhlmann`sche Hof am heutigen Forstweg (früher: Hof Cordes)
c 77: Hof 3 (Halbhof) - Marcks´sche Hof (heute Gut Orla - früher Hof Marquart)
d 76: Hof 1 (Halbhof) - Hof Wichtendahl/Peters (stand an der heutigen Ecke Im Westerfeld/Zur Kleinen Oertze)
b 75: Hof 4 (Vollhof) - Hof Peters (heute ehemalige Waldklinik - früher Hof Reder / Rehr)
e 74: Hof 2 (Viertelhof) - Hof Peters (stand am Ende der heutigen Straße Unter den Buchen - früher Bokelmann)
Diesen Auszug aus der "Zur Specialtheilung und Verkoppelung" 1861 angefertigten "Charte von der Feldmark des Dorfes Oerrel, Amt Soltau" präsentieren wir hier mit freundlicher Genehmigung der Zentralen Altablage (ZAA) des Amtes für reginale Landesentwicklung Leine-Weser in Hannover. Dieses Archivgut ist Eigentum der Zentralen Altablage (ZAA) in Hannover. Ohne deren vorherige schriftliche Zustimmung darf diese Abbildung nicht gespeichert, reproduziert, archiviert, dupliziert, kopiert, verändert oder auf andere Weise genutzt werden.
© Rolf Sund, Oerrel
Auch auf diesem im Oktober 1915 angefertigten Lageplan von Oerrel ist das im Halbkreis angelegte Dorf gut zu erkennen. Aus der Gebäudeerklärung dieses Lageplanes können die damals vorhanden Gebäude zugeordnet werden. Der Plan diente wohl zur Übersicht der in der Oerreler Filiale (Filialanstalt) der Korrigendenanstalt Wunstorf vorhandenen Gebäude.
Beschreibung der Höfe beginnend von links (unter der Gebäudeerklärung) nach rechts oben:
5. ehemaliger Hof 5 - Kuhlmann´sche Hof / 1915 = Sitz des Oberförsters in Oerrel
7. Neu entstandenes Forst-Sekretär-Wonhaus
3. ehemaliger Hof 3 - Marcks`sche Hof / 1915 = Pachthof
6. Schule
1b. Scheune vom ehem. Hof 1 (der Hof selbst stand in etwa bei 4g)
4. Korrigendenanstalt (ehemals lag hier der Hof 4)
2. Förster-Wohnhaus (ehemaliger Hof 2)
Kehren wir jetzt aber wieder in die Anfangszeit unseres Dorfes zurück, das nicht nur an der flachsten Uferstelle errichtet wurde, sondern auch in einem Gebiet, in dem der Bach einige Schleifen machte, wodurch sich das Tal der Kleinen Oertze an dieser Stelle weitete, bevor es südlich des Dorfes wieder schmaler wurde.
Und genau hier ließen sich die ersten „Oerreler“ nieder. An dieser „Stelle“ entstand nicht nur das Dorf, sondern nach diesem „Ort“ könnte es meines Erachtens auch benannt worden sein. Orle – Ort im Wald. Demnach waren wir schon bei der Gründung das Walddorf Oerrel. Welche Herleitung des Namens zutrifft, lässt sich mit letzter Sicherheit wohl niemals sagen. Ich persönlich halte aber die „Ort im Wald“-Version für wahrscheinlicher als die Herleitung vom Namen des Baches.
Wenn man sich das Blatt 84 - Munster – der Kurhannoverschen Landesaufnahme von 1775 anschaut, entdeckt man darin auch die damals gebräuchlichen Flurnamen. Direkt über dem Ortsnamen „Oerrel“ ist das „Ort Feld“ eingezeichnet. Mit diesem Flurnamen wird das Feld bezeichnet, das direkt am Rand des Dorfes oder am Waldrand liegt. Südwestlich von Oerrel liegt das „Emloh“ und südöstlich das „Kreloh“ Anhand dieser Flurnamen ist zu erkennen, dass die alten Wörter „ort“ und „loh“ auch hier gebräuchlich waren. Demnach könnten sie auch ursprünglich beim Ortsnamen verwendet worden sein.
Die Endung „-le“ kam allerdings nicht sehr häufig vor. So wurden 1450 im Gebiet des „Winsener Schatzregisters“, das in etwa die heutigen Landkreise Harburg, Lüneburg, Uelzen, Lüchow-Dannenberg und die nördlichen und östlichen Gebiete des ehemaligen Landkreisen Soltau umfasst, nur drei Ortschaften mit dieser Endung erwähnt, nämlich Stelle bei Winsen, Wele - das heutige Welle – und unser Orle. Theodor Meyer, der dies in seinem 1891 herausgegeben Buch über das Schatzregister erwähnt, zählt alle Ortschaften mit den Endungen -ell und -le zu den Ortschaften, die auf -lo (lôh) enden. Auf dieses Buch und das Winsener Schatzregister kommen wir noch zurück.
Hier erst noch weitere Quellenangaben zur Herleitung des Ortsnamens „Orle“ von "Ort" und „Loh, -le“ = Wald.
Rand, Ecke, Spitze usw. mittelhochdeutsch und mittelniederdeutsch = Ort - Wiktionary
Besonders interessant ist der § 134 in dem Buch "Die deutschen Ortsnamen, in geographischer, historischer, besonders in sprachlicher Hinsicht, mit stäter Berücksichtigung der fremden Ortsbenennungen" von Dr. Joseph Bender *1) aus dem Jahre1846, das online bei Google Books eingesehen werden kann.
Die deutschen Ortsnamen (etc.) - Google Books
*1) = Joseph Bender - Wikipedia
Und auch im Mittelniederdeutschen Wörterbuch von Gerhard Köbler sind diese Hinweise zu „ort“ und „lô“ zu finden.
ort, mnd. im Mittelniederdeutschen Wörterbuch von Gerhard Köbler TIPP: zum schnelleren auffinden in der Suchfunktion "ort, mnd." eingeben.
lo (1) im Mittelniederdeutschen Wörterbuch von Gerhard Köbler TIPP: zum schnelleren auffinden in der Suchfunktion "lo (1)" eingeben.
Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass es das Wort „Orle“ auch als regionale Bezeichnung für bestimmte Baumarten gibt. Beispielsweise findet man es im Internet bei „DeWiKi“ unter den zahlreich aufgeführten Trivialnamen für die Schwarz-Erle. Da es an der Kleinen Oertze viele Schwarzerlen gibt, wäre auch diese Herleitung denkbar, allerdings wird dieser Name bei „DeWiKi“ aus dem Althochdeutschen hergeleitet und das wurde in Norddeutschland eigentlich nicht gesprochen. Insofern dürfte diese Herleitung eher unwahrscheinlich sein, was auch für den im landesgeschichtlichen Informationssystem für Hessen im südhessischen Wörterbuch gefundene lokalen Namen „Orle“ für die Ulme bzw. für den Ahorn zutrifft.
Vom Ortsnamen „Orle“ lässt sich also keine genaue Zeit der Gründung des Dorfes herleiten. Die einfachen Menschen konnten weder lesen noch schreiben. Alles Wichtige wurde in unseren Breiten erst ab dem 12. oder 13. Jahrhundert in den Städten von Stadtschreibern und in den Klöstern von Mönchen aufgeschrieben. Daher sind heute noch erhaltene alte Stadt- bzw. Kirchen- und Klosterbücher wichtige historische Quellen. Eine dieser Städte, aus denen das alte Stadtbuch aber auch alte Klosterbücher erhalten geblieben sind, ist „Modestorpe“, das heutige Lüneburg.
So ist das Totenbuch (Nekrolog) des ehemaligen Sankt Michaelis-Klosters eines der ersten Dokumente, in denen unser Dorf als "Orle" erfasst wurde.